Lebenswege
„Lebenswege". So nennt die Meerbuscher Künstlerin Angelika Kasching ihr Kreuzwegprojekt.
Der Plural im Titel ist Absicht - und Aufforderung an die Betrachter. Denn konkret zu sehen ist in diesem Kreuzweg nur ein Lebensweg, bzw. auch davon nur ein Stück: die letzten Tage im Leben Jesu Christi. Andere „Lebenswege" im Zeichen des Kreuzes müssen erst noch entstehen, quasi zum Leben erweckt werden - in unseren Köpfen.
„Lebenswege" im Zeichen des Kreuzes - das kann vieles meinen: Kreuzwege, Wegkreuzungen, ein Kreuz auf sich nehmen, Wege zum Kreuz, zu Jesus, zu Gott, Wege ins Leben. Viele Wortspiele und Assoziationen sind möglich angesichts dieser christlichen
Skulptur und ihrem Titel. Einige möchte ich hier skizzenhaft andeuten - als eine Art geistige Wegzehrung. Für jene, die heute oder in der nächsten
Zeit an den künstlerisch gestalteten Stationen entlang wandern. Und den letzten Schritten im Leben Jesu Christi einmal auf eine neue, andere Art nachsinnen wollen.
Die letzten Schritte auf dem Lebensweg Jesu Christi
15 Stationen umfasst Angelika Kaschings Kreuzweg. Inhaltlich und gedanklich orientiert er sich an den biblischen Erzählungen der Evangelisten: Das Motiv-Ensemble beginnt mit der Verurteilung Jesu durch Pilatus und endet in einer
Auferstehungs-Tür. (Eine Station mehr als die traditionellen
Kreuzweg-Darstellungen, die das Leiden und Sterben Jesu seit der Zeit der Gegenreformation in 14 Motive unterteilen.) Modern und entschieden sparsam in den Mitteln ist die Art der Darstellung: Bis auf die letzte Station, eine geöffnete Tür ins Leben, illustriert Angelika Kasching das Leiden und Sterben Jesu mit Holz. Materielle Grundlage ihres Kreuzwegs sind schlichte Baubretter, entdeckt im Abfall eines Holzhändlers im Bergischen Land. Wer genau hinsieht,
entdeckt meist auf den Rückseiten Farbpartikel - Spuren der früheren Verwendung dieser Bretter. Wir erleben hier sozusagen christlich fundiertes Recycling: Scheinbar nutzlos Gewordenes erhält eine neue Aufgabe und wird zum Ausgangspunkt religiösen Nachdenkens.
Sichtbarer Ausdruck dieser neuen Aufgabe, dieses Konvertierens von Wertlosem in Wertvolles, ist die Form der Bearbeitung. Angelika Kasching umhüllt die Holzbretter mit schützender Farbe in warmen Tönen, veredelt sie mit Metall - mit Goldauflage, mit Kupfer- und Eisendraht, mit Bleiplatten. Symbolik mit Kontrastprogramm: Gold steht für Licht, für Glanz, für Erleuchtung und göttliche Güte; dunkel gestaltete Flächen signalisieren Niedergeschlagenheit, Bedrückung, Bedrohung. Drähte erweisen sich auf den ersten Blick als Fesseln. Als Fesseln von außen, möglicherweise auch als Fesseln, die der Mensch sich selbst auferlegt.
Bei genauerem Hinsehen bemerkt man Roststellen, wie kleine Hinweise auf Brüchigkeit, wie die Aussicht auf Befreiung - vielleicht durch Erkenntnis?
Hinweis auf Kupferdraht in der Station Kreuzigung: Dunkel gestrichene Fläche, die für Depression und Sterben steht, goldene Fläche, die hellglänzend und verheißungsvoll erstrahlt. Dazwischen: Kreuz aus Kupferdrähten - wie eine Leitung für die Energie-Flüsse vom Tod ins ewige Leben. Doppelbödig ist auch die Verwendung von Blei. Das Schwermetall ist hochgiftig. Es kann aber auch Leben schütten - vor gefährlicher Strahlung, vor Verrottung. In einigen der Kreuzwegstationen hat Angelika Kasching Erde (aus verschiedenen Städten und Ländern, Afrika, Australien) verarbeitet,
mal als konkrete Erd-Häufchen, wie vor der Auferstehungstür, mal zu einer Art Pastose angerührt
und wie Farbe aufgetragen. Auch hier finden wir wieder eine Metaphorik, die zwei Lesarten zulässt: Erde steht einerseits für das Werden, das Lebensspendende. Nicht umsonst sprechen wir von der „Mutter Erde". Und andererseits symbolisiert Erde das Vergehen, das Vergängliche, den Kreislauf von Leben und Tod. Nach seinem Tod zerfällt der Mensch zu Erde, zu Staub, zu jenem Element, das wiederum Leben hervorbringt.
So wiederholt sich in der künstlerischen Arbeit von Angelika Kasching der Kreislauf von Leben und Tod und Leben. Wie aus einem gefällten Baum, einem scheinbar toten Holz ein zarter Trieb spriessen kann, erzählt das Material des Kreuzweges vom Leiden und Sterben Jesu. Und zugleich von seiner Güte, seinem Sieg über die Welt.
Von der Hoffnung auf neues Leben nach der Auferstehung. Von einem, der aus Liebe zu den Menschen Schrecken durchstand, der Ängste und Schmerzen auf sich nahm. Und so, wie es im christlich-theologischen Sprachgebrauch heißt, die Welt überwunden hat.
Das Holz-Kreuz als Lebensweg-Marke
Werfen wir noch einen Blick auf die Gestaltung der Kreuzweg-Stationen: Die meisten Holzbretter sind mit dem Symbol des Kreuzes versehen. Es war ein Kreuz aus Holz, das einst Jesus auf dem Rücken nach Golgatha zu schleppen hatte, ein Holz-Kreuz, wie es in jenen Zeiten von den Römern zur Hinrichtung von Sklaven, Räubern und Aufrührern gebraucht wurde. Ein Holz-Kreuz, das Jesus niedergedrückt hat, das ihn vor aller Augen gedemütigt,
ihm Pein zugefügt hat, in dessen Vorahnung er, wie der Evangelist Lukas schreibt, Wasser geschwitzt hat, das wie Blut zu Boden tropfte. Ein Mensch unter dem Kreuz, trotz väterlichem Trost in höchster Not und Todesangst. Das ist die eine Seite des Kreuzes, das Kreuz von Karfreitag. Wenn man aber von Ostern her auf dieses Kreuz zurückschaut, erscheint einem dasselbe Kreuz auch als Zeichen der Hoffnung, der Liebe Gottes zu den Menschen. Das Kreuz - todbringend und lebensrettend.
Heute begegnet uns das Kreuz mit all seiner Doppelsymbolik, überall auf der Welt: In Kirchen natürlich, aber auch in Schul- und Wohnräumen, bei Gericht, in Krankenhäusern, in Standesämtern, in Einkaufsstraßen, an Wegkreuzungen. Wie ein Verkehrsschild, wie ein Piktogramm aus urchristlichen
Zeiten, weist es uns den Weg. Den Lebensweg eben.
Lebenswege - von Menschen gestaltet
Noch eine weitere Dimension kann man dem Kreuzweg von Angelika Kasching abgewinnen: Die Aufforderung, Verantwortung zu tragen. Für uns, für andere. Vor allem aber für die, die nach uns kommen. Für die Kinder. Unterstrichen hat Angelika Kasching diesen Gedanken mit einem Werk, das sie eigens für diesen Kreuzweg geschaffen
hat: die „Dornenkrone des 20. Jahrhunderts". Diese raumgreifende Installation, deren 14 Stationen mit denen des „Kreuzweges" korrespondieren,
nennt die Künstlerin „eine Hommage an alle Kinder dieser Welt". „Was haben die Kinder für eine Zukunft?", lautet die Frage, die Angelika Kasching umtreibt. Damit erhält ihr Kreuzweg-Projekt einen ganz unmittelbaren Gegenwartsbezug.
Kreuzweg der Gegenwart
Vor dem weltpolitischen Hintergrund ruft uns dieses
Kreuzweg-Projekt nämlich auch solche Lebenswege vor Augen, wie Jean Ziegler sie in seinem aktuellen Buch „Die neuen Herrscher dieser Welt" eindringlich beschreibt. „Alle zehn Sekunden verhungert auf der Erde ein Kind unter zehn
Jahren", schreibt der Schweizer Soziologe und UN-Sonderberichterstatter. Und er führt weiter aus: Ein Kind, das von seiner Geburt bis zum fünften Lebensjahr angemessene Nahrungsmittel in ausreichender
Menge erntbehren muss, hat sein Leben lang an den Folgen zu leiden. Seine Gehirnzellen haben bereits irreparable Schäden davon getragen. „Von Geburt an Gekreuzigte" nennt der französische
Schriftsteller und Journalist Regis Debray diese Kinder. (Ziegler, S. 13)
Wie erläuterte doch gleich Angelika Kasching ihr Kreuzweg-Projekt? Sie habe es geschaffen, um „dem erschreckend großen Gegendruck zum Leben zu begegnen". Weil sie überzeugt sei, n dass der Mensch nicht das Ungeheuer dieser Erde sein muss".
Verstehen wir ihren Kreuzweg also auch als Apell -an die Verantwortung des Menschen bei der Gestaltung von Lebenswegen. Seines eigenen, denen der anderen. Oder, mit den Worten des französischen
Schriftstellers Georges Bernanos gesagt: „Gott hat keine anderen Hände als die unseren."
Sabine Königs-Casimir, Journalistin