Durch das Leben auf dem Weg

Die Passion gehört zu den großen Themen der europäischen, christlichen Kunst. Sie ist, um es mit Worten von Otto Pankok zu sagen, ein „Urthema der Menschlichkeit". Auch die jüngere Künstlergeneration wie Angelika Kasching hat sich der Herausforderung gestellt und einen skulptura-len „Kreuzweg" im Zeichen des christlichen Glaubens geschaffen. Er ist eine zusammengestellte, zyklische Abfolge des Leidens Christi, wie sie die Evangelisten in der Bibel berichten. Traditionell beginnt der Handlungsrahmen mit dem „Einzug in Jerusalem" (1) über das „Gebet am Ölberg" (2), die „Gefangennahme" (3), die „Dornenkrönung" (4 ), „Ecce homo" (5), die „Kreuztragung" (6), die „Kreuzigung" (7), die „Kreuzabnahme" (8), die „Grablegung" (9) und endet mit der „Auferstehung" (10). Oft wird er noch durch andere
Stationen bereichert wie beispielsweise durch das „Abendmahl" oder die „Fußwaschung". Wurde im 15. Jahrhundert der „Kreuzweg" in sieben Stationen unterteilt, verändert er sich in der Zeit der Gegenreformation auf vierzehn.
Angelika Kaschings „Kreuzweg"-Ensemble weicht vom traditionell-authentischen Motivkanon etwas ab. Er beginnt mit der „Verurteilung Jesus" durch Pilatus und mündet - und das ist das Besondere - in der „Parzival"-Tür, der Auferstehungstür als fünfzehnte Station.

Inhaltlich lässt sie es offen, ob ihrem „Kreuzweg" die Vision des über Leid und Tod triumphierenden Christus oder der leidende Christus als geschundene
Natur zugrunde liegt. Ikonographisch leitet sich das Motiv des siegenden und triumphierenden Christus aus der Mitte des 4. Jahrhunderts her und erfährt im 12. Jahrhundert historisch seinen Höhepunkt. Die Darstellung des leidenden Christus hingegen entwickelte sich erst im späten Mittelalter.
Aus benutzten alten Baubrettern konstruiert Angelika Kasching vierzehn Kreuzwegstationen, die fünfzehnte ist eine Tür. Diese Holzbretter stehen frei im Raum; ihre visuelle Gestalt ist streng und asketisch, ohne minimalistisch zu sein. Sie sind teils mit Blei ummantelt, teils mit Gold betont oder mit Kupferdraht verflochten. Häufig sind sie von Erde aus verschiedenen Ländern und Städten begleitet. Sie verkörpern nach Kasching „Menschlichkeit und Leben". Man kann Erde aber auch als Metapher für das Vergängliche interpretieren oder als Anlehnung an die künstlich aufgeschütteten Kalvarienberge, die häufig in der christlichen Volkskunst zu finden sind. Im leuchtenden „Gold" kündet sich nach Kasching „Hoffnung", die „Güte Gottes", die „Veränderung" an. Das „Blei" dagegen
verweist auf die „Schwere". Je nach dem zugrundeliegenden Bibeltext kombiniert sie die Materialien, um das Spezifische der Passionsszene hervorzuheben. Mit vergleichendem Blick auf die Heilige Schrift wird „Blei" wegen seines Gewichtes als Topos für „Schweres" gebraucht oder für den von Sünden beladenen Menschen. „Gold" bedeutet in der biblischen Symbolik die Begegnung mit der göttlichen Weisheit im menschgewordenen Wort Gottes und „Holz" ist das Leben. „Güte und Zuversicht" will hingegen Angelika Kasching entfalten
und Impulse für etwas schwer Fassbares setzen,
nämlich „was ein Mensch überhaupt aushalten kann, um seine Last zu tragen".
Farblich dominiert in ihren „Kreuzweg"-Stationen das Helle. Kompositionen erkennt man in nahezu allen Stationen die Darstellung des Kreuzes in seinen
verschiedensten Formen. Es führt so als etwas unmittelbar Wirkendes in den Prozess der todbringenden
Handlung. Beide Elemente, - die Farbwerte und das Kreuz -, weisen auf den Opfertod Christi oder auf die Herrschaft des Geistes über die Materie.
In der fünfzehnten Station, der bleiummantelten Tür mit ausgeschnittenem Segment, das mit dem dahinter stehenden gleisenden Goldkreuz korrespondiert
und dem am Boden liegenden Häufchen Erde, manifestiert sich das „Tor zum Leben". Seit altersher symbolisiert die Tür/Tor den Übergang vom Tod zum Leben, also die „Auferstehung". In ihr hat Angelika Kasching „Parzival" eingebunden als Interpretation der Auferstehung. Parzival, im 12. Jahrhundert mit der Sage vom heiligen Gral verbunden, hatte sich der Legende nach mittels langer
innerlicher Läuterung zur Aufgabe gemacht, Leidende und Verfolgte zu beschützen. Als Urbild
des christlichen Ritters ist Parzival im Epos von Wolfram von Eschenbach (1170-1220) zwar von zahlreichen sinnbildlichen Verweisungsbezügen erfüllt. Wissenschaftlich kontrovers diskutiert werden dabei allerdings inbesondere jene Ansätze, die Analogien zur Heilsgeschichte betonen. Danach entsprechen typologisch die Stationen Parzivals denen des Lebensweges Jesu. Nach Kasching transportiert
„Parzival" die Erkenntnis von der „schuldhaften
Verstrickung der ganzen Menschheit und erfasst das Unbegreifliche, die Menschwerdung Gottes und sein Erlösungsopfer von Golgatha. Er erkennt, was das Christuswort bedeutet: wer mir nachfolgen will, der überwinde sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich". So ihr Credo.
Eine Fortführung des „Kreuzweges" ist: „Die Dornenkrone des 20. Jahrhunderts". Sie gehört zum Zyklus „Organischer Prozess im Kreuz der Gegenwart". In ihr manifestiert sich der Gegenpol zum „Kreuzweg". Auf Steinsockeln stehend, setzt sie sich aus vierzehn Stationen zusammen mit einem Durchmesser von 210 cm. Jede einzelne Station hat eine bewusste Assoziation zum „Kreuzweg". Selbst die Materialien wiederholen sich in den Stäben: Blei, Kupfer, Eisen, Stein, Gold, Holz und Erde. Durch den weißen, in sich mehrfach
verschlungenen Drahtkranz flicht sich vergoldeter
Stacheldraht hindurch. Ist im Christentum der Dorn Kennzeichen für die Leiden Christi, symbolisiert
er ganz generell die Spitzen des Mondes. Insofern könnte sich in der „Dornenkrone des 20. Jahrhunderts" der Sieg des Weiblichen verbergen. Eine wichtige Station ist hier die vierzehnte, die sich inhaltlich dem Motiv der „Frauenrechte" widmet.

Angelika Kasching geht davon aus, dass die Gleichstellung von Frau und Mann bis heute nicht befriedigend vollzogen ist. Sie möchte das kämpferisch,
rationale Phänomen des Männlichen durch die weibliche Empfindungskraft so transformieren, dass sich die beiden Geschlechter nicht weiter polarisieren,
sondern ausgewogen und gleichberechtigt gegenseitig partizipieren. Nicht das Abschaffen der männlichen Machtfaktoren ist also gemeint, sondern
das Bereichern durch weibliches und mütterliches
Gefühl und Empfinden.
Die „Dornenkrone des 20. Jahrhunderts" ist, erläutert
Kasching bezogen auf die weit zurückreichende Menschheitsgeschichte und die heutige Gegenwart, „eine Hommage an alle Kinder dieser Welt. Was haben unsere Kinder für eine Zukunft? Das ist meine innerste Frage". Damit ist die „Dornenkrone" für sie ein „organischer Prozess" für etwas Lebendiges, sich Bewegendes. Er besitzt eine sprengende oder vorantreibende Kraft.
Resümierend lässt sich sagen, dass Angelika Kaschings „Kreuzweg"erneut ein urchristliches Bekenntnis ist, ohne konfessionelles Pathos, ohne Dogmatismus. Analog zu den tradierten Stationen ist er eine religiöse Aussage eines ganz subjektiven innerlichen Erlebnisses. Obwohl gegenstandslos, soll jede Station zu einem „Andachtsbild" für eine stille, glaubensvolle Versenkung des Einzelnen werden.
Im aktiven Abschreiten und im schöpferischen Nachvollzug soll hier Erschütterung empfunden werden über das, was geschah. Zumindest jedoch sollte es erahnt werden, wenn man sich auf eine religiös motivierte Innerlichkeit einlässt.

Dr. Ingrid Skiebe, Kunsthistorikerin